14
Im Gerichtssaal wurde es mucksmäuschenstill. Anspannung machte sich breit. Andie DeGrasse konnte nicht glauben, was sie da gerade gehört hatte. In dem einen Moment reißt dieser Typ einen Witz wie ein normaler Mensch, und plötzlich gibt er zu, jemanden umgepustet zu haben. Noch nie hatte sie jemanden so beiläufig erzählen hören, dass er jemanden umgebracht hatte. Als hätte er einen ganz gewöhnlichen Botengang erledigt.
»Sie geben zu, Mr. Greenblatt vor seinem Haus umgebracht zu haben?« Joel Goldenberger blickte genauso schockiert wie alle anderen auch.
»Das habe ich doch schon zugegeben, Mr. Goldenberger. Gegenüber der Polizei und dem FBI. Ich war nicht unbedingt stolz darauf, aber nur so kommt man in diesem Spiel weiter.«
Goldenberger trat zurück und ließ Machias Zeugenaussage auf die Geschworenen wirken. Andie erinnerte sich an die blutige Szene auf dem Tatortfoto. »Können Sie den Geschworenen beschreiben, wie dieser besondere Auftrag zustande kam?«
»In Ordnung.« Machia holte tief Luft. »Ich habe für RalphieD. gearbeitet.«
»Ralphie D.«, unterbrach ihn Goldenberger. »Sie meinen
Ralph Denunziatta, oder?« Er deutete auf ein rundes,
wuchtiges
Gesicht oben im Stammbaum. »Er war Lieutenant im
GuarinoKlan?«
»Ja, das ist er.« Machia nickte. »Wir haben ihn Ralphie
D.
genannt, weil …«
»Wir haben schon verstanden, Mr. Machia. Weil es noch
einen
Ralphie gab.«
»Ralphie F.«
»Ralphie Fraoli.« Goldenberger zeigte auf ein anderes Gesicht.
Machia kratzte sich am Kopf. »Ehrlich gesagt, Mr. Goldenberger,
wusste ich gar nicht, wie Ralphie F. mit
Nachnamen heißt.«
Das Lachen wurde noch lauter. Es hätte eine gute Komödie
ergeben, wäre es nicht um eine so todernste Sache gegangen. »Also
hat Ihr Boss, Ralph Denunziatta, Kontakt mit Ihnen
aufgenommen?«
»Er meinte, diese Sache müsste für den Klan erledigt
werden.
Für den Boss.«
»Und mit ›erledigen‹ meinte er einen Auftrag, einen Mord?
Das hieß, Sie mussten jemanden umbringen?«
»Es war klar, was er meinte, Mr. Goldenberger.«
»Und mit dem Boss« – Goldenberger drehte sich wieder zu
Machia – »war wer gemeint?«
»Dominic Cavello.« Er deutete in die Richtung des Angeklagten. »Es
hieß, man müsste ihm einen Gefallen tun. Es gäbe da
einen Typen in New Jersey, der Probleme macht. Kein geschützter
Typ, nur ein normaler Bürger.«
»Und wie kamen Sie sich vor, als Sie damit betraut
wurden,
Mr. Machia? Sie wussten, dass dieser Auftrag bedeutete,
jemanden umzubringen.«
»Ich wusste, welche Konsequenzen das hatte,
Mr. Goldenberger.« Machia schielte zu den Geschworenen
hinüber. Andie hatte einen Moment das Gefühl, ihr Blut
würde
gefrieren, als sie seinen Blick auf sich spürte. »Ralphie hat
mir
gesagt, was sie geplant hatten. Es wäre ein Kinderspiel.
Also,
ich hatte da diesen Freund, mit dem ich Autos geklaut habe.« »Bei
diesem Freund beziehen Sie sich auf Steven Mannarino?«, fragte
Goldenberger nach. Er trat an seinen Tisch und hielt
das große Foto eines pausbäckigen, grinsenden Jungen von
vielleicht achtzehn Jahren mit buschigem Haar und einem
Hemd
der Giants hoch.
»Ja, Stevie.« Machia nickte. »Wir kennen uns schon, seit
wir
Kinder waren.«
»Also sollte Mr. Mannarino den Wagen stehlen?«
»Und Nummernschilder. Es wurde beschlossen, dass es am
einfachsten wäre, den Kerl vor seinem Haus zu erschießen,
wenn er am Morgen zur Arbeit geht. Wie heißen diese Sackgassen, wo
man am Ende wenden kann?«
»Genau so – Sackgasse mit Wendemöglichkeit«, antwortete
Goldenberger.
»Ach ja? Also, mehrere Fahrzeuge haben die Gegend abgefahren. Haben
nach Polizisten Ausschau gehalten. In einem saß
Tommy Mustopf, der eigentlich Tommy Mussina hieß. Ralphie
war ihm direkt unterstellt. Zwei Tage vorher haben wir
einen
Probelauf gemacht. Das Ziel beschattet. Dieser Jude gab
seiner
Frau einen Abschiedskuss an der Tür. Er schien ganz in Ordnung zu
sein.«
»Aber Sie waren bereit, die Sache trotzdem
durchzuziehen?«,
fragte Goldenberger.
Machia zuckte mit den Schultern und nahm wieder einen
großen Schluck aus seiner Wasserflasche. »So viele
Chancen
kriegt man nicht im Leben, Mr. Goldenberger. Ich habe
Jungs
gesehen, die wurden alle gemacht, weil sie einen Auftrag
abgelehnt hatten. Wer nicht pariert, riskiert, der Nächste zu
sein.
Abgesehen davon …«
»Abgesehen wovon?«, drängte Goldenberger.
»Es war ein Gefallen für den Boss, Mr. Goldenberger.
Einen
solchen Auftrag lehnt man nicht ab.«
»Und woher wussten Sie das?«
»Ralphie hatte gesagt, es sei für den Elektriker.«
»Und mit ›Elektriker‹ meinte er wen, Mr. Machia?« »Einspruch!«
Cavellos Anwalt erhob sich mit finsterem Gesichtsausdruck. Andie
blickte zu O’Flynn, der dem Anwalt im
Geschworenenzimmer bereits einen Spitznamen verpasst
hatte:
die Augenbraue.
»Tut mir leid, Euer Ehren«, entschuldigte sich
Goldenberger.
»Also, bei ›Elektriker‹ gingen Sie davon aus, dass Ralphie
D.
wen meinte?«
»Dominic Cavello. Der Elektriker, das war sein Name.
Ralphie arbeitete für Tommy, und Tommy arbeitete für den
Boss.«
Goldenberger nickte sichtlich erfreut. »Also wussten Sie
hundertprozentig, dass dieser Mord für den Boss war, also
für
Mr. Cavello, weil Ralphie D. es Ihnen gesagt hatte?« »Das und die
andere Sache.« Machia hob die Schultern. Goldenberger drehte sich
um. »Was für eine andere Sache,
Mr. Machia?«, fragte er mit lauter Stimme.
Es entstand eine Pause. Louis Machia lehnte sich in
seinem
Stuhl zurück und trank aus seiner Flasche. Zum ersten Mal
hob
Cavello seinen Blick zu Machia, der seine Flasche wieder
abstellte.
»Diese Autos, von denen ich geredet habe, Mr.
Goldenberger.
Die rumgefahren sind. In einem saß Dominic Cavello.« Die
Mittagspause verbrachte Andie draußen auf dem Foley Square. Es war
kalt, aber für November trotzdem noch ziemlich schön. Sie setzte
sich mit einem Thunfisch-Wrap auf einen Sims und ging für die
Stadtteilzeitung, für die sie stundenweise arbeitete, ein paar
Korrekturen durch. Auch in ihr Büchlein
notierte sie sich etwas – und unterstrich es: Cavello war dort! Um
zwei Uhr kehrten alle in den Gerichtssaal zurück, Machia
nahm wieder seinen Platz im Zeugenstand ein.
»Ich möchte dort weitermachen, wo wir aufgehört haben,
Mr. Machia.« Goldenberger trat vor den Zeugenstand. »Was
ist
nach dem Mord an Samuel Greenblatt passiert?«
»Nach dem Mord?« Machia dachte einen Moment nach. »Ich
wurde befördert. Ich wurde zu einem Soldaten gemacht, wie
Sie
gesagt haben.«
»Ich glaube, das war ein paar Wochen danach«, korrigierte
ihn
Goldenberger. »Vielleicht einen Monat?«
»Siebenundzwanzig Tage.« Machia lächelte. »Um genau zu
sein.«
Auf der Zuschauertribüne wurde wieder gekichert. Goldenberger tat
es auch. »Das war sicher ein wichtiger Tag in Ihrem
Leben, Mr. Machia. Aber ich meinte eher die Tage direkt
nach
dem Mord an Sam Greenblatt.«
»Ach so.« Machia schüttelte den Kopf, als hätte er einen
Schlag ins Gesicht bekommen, und nahm noch einen Schluck
aus seiner Flasche. »Wir haben den Wagen irgendwo stehen
lassen. Später waren wir alle bei Ralphie D. zum
Abendessen
eingeladen, in Brooklyn.«
»Und das lief problemlos, Mr. Machia?«
»Dieser Teil ja, Mr. Goldenberger. Wir haben den Wagen am
Newark Airport abgestellt, und Stevie warf die Nummernschilder in
den Sumpf abseits der 1-95. Wir waren bester Laune und
haben gefeiert. Wir dachten, uns steht eine rosige
Zukunft
bevor.«
»Aber das war nicht der Fall, oder? Was ist passiert?« Der
dunkelhaarige, kleine Mafioso gluckste angewidert und
schüttelte den Kopf. »Ich glaube, dass jemand, vielleicht
ein
Nachbar, die Nummernschilder gesehen hat, als wir
Mr. Greenblatt erschossen haben und wieder weggefahren sind.«
»Jemand hat Sie gesehen? Und warum glauben Sie das?«,
drängte Goldenberger.
»Weil später, gegen sieben, die Polizei zu mir nach Hause
kam. Ich war nicht da, aber meine Frau und meine Kinder.
Sie
wollten sich ihren Wagen anschauen.«
»Ihren Wagen?« Goldenberger machte ein verwirrtes
Gesicht.
»Warum wollten sie den Wagen Ihrer Frau sehen, Mr.
Machia?«
Es war klar, dass Goldenberger die Antwort kannte. Er
wollte
nur die Zuhörer geschickt auf das Überraschungsmoment
lenken.
»Offenbar war die Autonummer, die der Nachbar gesehen
hatte, als wir fortfuhren, auf sie angemeldet.«
Im Gerichtssaal schnappte man hörbar nach Luft.
»Auf Ihre Frau, Mr. Machia? Sie haben uns doch vorhin
erzählt, Steven Mannarino sollte Nummernschilder für den
Mord stehlen.«
»Das hat er wohl auch getan.« Machia kratzte sich am
Kopf.
»Bei mir zu Hause.«
Andie blickte die Reihe entlang zu O’Flynn. Beide
blinzelten,
als wüssten sie nicht, ob sie richtig gehört hatten.
Joel Goldenberger riss die Augen weit auf. »Er ist Ihr bester
Kumpel, Mr. Machia. Und da sagen Sie, er hätte die
Nummern
schilder für diesen Mord von Ihnen gestohlen?«
»Ich habe gesagt, wir kannten uns seit unserer Kindheit,
Mr. Goldenberger. Er war mein ältester, nicht mein bester
Freund, und der Schlauste war er auch nicht gerade.« Der ganze
Gerichtssaal kicherte ungläubig. Auch die Richterin
versuchte wieder vergeblich, ein Lächeln zu verbergen.
Als
Ruhe eingekehrt war, schüttelte der Staatsanwalt den
Kopf.
»Also, Mr. Machia, fahren Sie fort.«
»Nachdem mich meine Frau angerufen hatte, rief ich Stevie
an
und sagte: ›Hey, Stevie, du hast wohl den Arsch offen,
was?‹
Entschuldigung, Euer Ehren. Jedenfalls hat er mir erzählt,
seine
Mutter hätte die gestohlenen Nummernschilder gefunden und
weggeworfen, da hätte er Panik gekriegt. Er hat nur einen
Straßenblock entfernt gewohnt und kannte sich bei mir zu
Hause
genauso gut aus wie bei sich. Er hat die Nummernschilder
meiner Frau in einer Kiste gefunden und gedacht, das
würde
schon keiner merken.«
Ein paar Sekunden lang herrschte ungläubiges Schweigen.
»Was passierte, als die Polizei zu Ihnen nach Hause
kam?«,
frage Goldenberger weiter.
»Meine Frau hat ihnen erzählt, jemand müsste über den
Zaun
geklettert sein und die Dinger geklaut haben.«
»Ihre Frau ist ziemlich fix im Denken, Mr. Machia.« »Ja, und
verdammt fix im Sauerwerden.« Er schüttelte lä
chelnd den Kopf.
Diesmal konnte sich keiner mehr zurückhalten. Andie
dachte,
dass jeder das gleiche Bild im Kopf hatte: die Ehefrau, die
dem
Gangster mit der Bratpfanne hinterherjagte. Sie legte eine Hand
über ihr Gesicht und blickte zur Seite. Ihr Blick fiel auf
Cavello,
der ebenfalls lächelte.
»Und die Polizei war mit dieser Erklärung zufrieden? Dass
jemand anderes die Nummernschilder geklaut haben musste?« »Ich weiß
nicht, ob man das ›zufrieden‹ nennen könnte. Ich
war vorbestraft. Es war nicht besonders schwer, mich
darauf
festzunageln, dass ich mit dem Klan zu tun hatte.«
»Ralphie D. konnte das sicher nicht so gut wegstecken.« »Das würde
ich eher untertrieben nennen, Mr. Goldenberger.
Alle waren stinksauer. Später am Abend habe ich mich mit
Stevie getroffen. Er hat Sachen gesagt wie ›Ich weiß, dass
ich
das verbockt habe, aber wenn das Konsequenzen hat, dann
gehe
ich nicht alleine‹. So verrücktes Zeug. Zeug, das er nicht
hätte
sagen dürfen. Er war völlig aufgekratzt.«
»Und wie haben Sie reagiert?«, wollte Goldenberger wissen. »Ich
habe gesagt: ›Gott, Stevie, so was darfst du nicht sagen.
Das könnte jemand hören.‹ Aber er war nervös. Er wusste,
dass
er die Sache verbockt hatte. In einem solchen Zustand hatte
ich
Stevie noch nie gesehen.«
»Was haben Sie also getan?«
»Ich? Ehrlich gesagt, Mr. Goldenberger, ich musste mich
um
mich selbst kümmern. Ich habe zu Ralphie gesagt, er soll
gar
nicht auf Stevie achten. Der würde keine Dummheiten mehr
machen. Er sei einfach nur durchgeknallt, mehr nicht.« »Sie haben
Ralphie von Stevie erzählt?«
»Das musste ich, Mr. Goldenberger. Wenn man ihn geschnappt und er
weitergeplappert hätte, wären wir alle geliefert
gewesen. Außerdem musste ich mir auch ein Alibi besorgen.
Damals hatte ich da so eine Sache mit dem Knie und musste
operiert werden. Also bin ich ins Kings County Hospital
zu
einem Arzt gegangen, den wir kannten – er schuldete uns
ein
bisschen Geld –, und habe von ihm verlangt, mich sofort
aufzuschneiden, dann wäre die Rechnung beglichen. Und in den
Unterlagen müsste stehen, dass ich schon seit dem Vormittag
im
Krankenhaus gewesen war.«
»Lassen Sie mich das klarstellen, Mr. Machia. Sie
brachten
einen Arzt dazu, fälschlicherweise zu behaupten, Sie seien in
ein
Krankenhaus aufgenommen worden, womit er Ihnen ein Alibi
für den Mord an Samuel Greenblatt verschaffte?«
»Ja.«
»Und er stimmte zu?«
»Na ja, ich habe ihm eine Waffe an den Kopf gehalten,
Mr. Goldenberger.«
Andie konnte es nicht glauben. Das Gelächter wurde immer
wilder.
»Kommen wir auf Stevie Mannarino zurück, Mr. Machia,
Ihren Freund seit Kindertagen.« Goldenberger ging ein
paar
Schritte auf seinen Zeugen zu. »Sie sagten zu Ralphie D.,
Sie
würden sich für Stevie verbürgen. Was meinte Ralphie dazu?« »Ich
sollte mir keine Sorgen machen. Er würde es mit dem
Boss besprechen. Sie würden ihn irgendwo hinbringen, wo
er
eine Weile untertauchen könnte, bis Gras über die Sache
gewachsen wäre. Er meinte, es wäre besser, wenn ich mich
auf
mich selbst konzentriere. Aber eigentlich war ich ein
bisschen
nervös. Ich hatte Angst, nie wieder aus diesem
Krankenhaus
rauszukommen, wenn Sie wissen, was ich meine.«
»Was passierte dann?« Goldenberger ging zum Tisch und
griff
zu Steven Mannarinos Bild. Dieses hielt er in Richtung
der
Geschworenen. »Sagen Sie dem Gericht, Mr. Machia, was aus
Ihrem Freund geworden ist.«
»Ich weiß nicht.« Louis Machia zuckte mit den Schultern
und
spülte den Kloß in seinem Hals mit einem Schluck Wasser
hinunter. »Ich habe Stevie nie wiedergesehen.«